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Crimson Rain chap2-1

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Kapitel 2 ~Yue


Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich ihn das erste Mal sah.
Die Siedler hatten ihn inmitten jenes bitterkalten Winters ausfindig gemacht und vollständig in dornenbesetzte Silberketten verschnürt in das Dorf gebracht. Er war bewusstlos gewesen und Blut troff, eine feine Spur hinterlassend, aus seinen offenen Wunden.
Doch als erstes zog sein Haar meine Blicke auf sich. Dieses tiefschwarz glänzende Haar, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Und das, obwohl ich Zeit meines jungen Lebens unter von Natur aus dunklen Asiaten aufgewachsen war. Auch die Menschen, die sich vor anderthalb Jahren an jenem Ort niedergelassen hatten, bestanden aus einer bunten Mischung von Japanern, Koreanern und ein paar wenigen Chinesen. Nur George und ich waren westlichen Ursprunges. George stammte aus Amerika, meine Herkunft kannte ich nicht. Die Flüchtlinge hatten mich auf ihrer Wanderung hierher hungernd und dem Wahn nahe in einem zerstörten Stadtviertel gefunden und mitgenommen. Dort begann meine Erinnerung.
Den gefangenen Vampir mit dem schönen, schwarzen Haar schleppten sie in den Keller des Gemeindehauses und sperrten ihn dort ein. Nach Sonnenuntergang rief man die Bewohner heran und ich sah ihn das zweite Mal.
Nun war er bei Bewusstsein, litt offenbar unter den Schmerzen verursachenden Verletzungen, blickte uns aber aus seinen dunklen, fast schwarzen Augen trotzig entgegen.
Am nächsten Tag setzten sie ihn dem Sonnenlicht aus und ich sah dabei zu, wie er in Flammen aufging und langsam verbrannte. Sein stundenlanger, qualvoller Schrei blieb mir auf ewig unvergessen.
Doch der Vampir starb nicht. Egal wie oft er vom Feuer verschlungen wurde, nach Einbruch der Dunkelheit heilten seine Wunden mit Ausnahme derer, die vom Silber verursacht wurden.
Aber auch der eigens für ihn gegossene Silberkeil vermochte sein Herz nicht zu durchdringen. Ebenso wenig, wie ihn die Enthauptung tötete. Dennoch entging mir nicht, dass er mit der Zeit immer schwächer wurde.
Ich hatte ihm nie erzählt, weshalb ich ausgerechnet in jener Nacht zu ihm in den Keller hinab gestiegen war. Hatte nie erwähnt, dass George mich spät abends hatte zu sich kommen lassen und dort in seinen Räumlichkeiten unsittlich zu begrabschen begann. Doch ich war flink gewesen und konnte dem alten Sack noch rechtzeitig entkommen, versteckte mich dann für mehrere Stunden und wusste am Ende selbst nicht einmal genau, was mich überhaupt zu den Kerkern führte.
Die Wache vor der Tür war in tiefen Schlaf versunken und ich schlich auf leisen Sohlen die Treppe hinab bis vor die Zelle des Vampirs. Er hatte sich noch nicht wieder ganz von den letzten Verbrennungen der Sonne erholt und ich sah eine Weile zu, wie sein verkohltes Fleisch heilte und neue Haut darüber wuchs.
Schliesslich erwachte er und wand sich einige Momente unter offensichtlichen Qualen. Dann richtete er seinen Blick auf mich und wieder sah ich diese seltsame Tiefe in seinen Augen, die mich auf bisher unbekannte Weise berührte.
Ich verstand die Angst der anderen Dorfbewohner vor diesem Wesen einfach nicht. Auch wenn seine enormen Heilkräfte und die Tatsache, dass es nicht durch normale Mittel zu töten war, irgendwie unnatürlich schien, hatte es doch niemandem ein Leid getan. Selbst als jene Kreatur vor einigen Tagen wie im Wahn mit geblekten Reisszähnen nach seinen Zuschauern geiferte und die sonst dunklen Pupillen dabei in gelbem Feuer glühten, verspürte ich keine Furcht. Alles, was ich sah, war ein hungriges Tier, das gefüttert werden musste.
Und so handelte ich. Ich zückte die scharfkantige Glasscherbe, die ich als Werkzeug bei mir trug, und schnitt mir damit die Handfläche auf.
Sofort verfiel der Vampir in einen Rausch und lechzte nach meinem Blut. Ich reckte den Arm durch das Gitter, er schob sich etwas näher und schliesslich liess ich die Tropfen in seinen weit geöffneten Mund rinnen.
Als er mich biss, fuhr ich zunächst erschrocken über den plötzlichen Schmerz zusammen, doch der wich schon bald einer seltsamen Erregung. Dann gab er mich wieder frei und zerschmolz vor meinen Augen zu einem befremdlich flirrenden Schatten. Das zuckende Gebilde wirkte dabei unstet wie prasselndes Feuer und, während es auf mich zu und durch die Gitterstäbe kroch, bemerkte ich, dass es eine gewisse Substanz besass.
Ausserhalb der Zelle wuchs es zu voller Manneshöhe an und manifestierte sich wieder in jenem schwarzhaarigen Vampir. Von den Wunden, die das dornige Silber, das in der Zelle zurückgeblieben war, verursacht hatte, liess sich keine Spur mehr erkennen.
Ich wusste nicht zu sagen, ob George mich schliesslich hier gesucht hatte oder der dösende Wächter aus seinem Schlummer erwacht war, aber es dauerte nicht lange, bis George mit drei seiner Männer in der Zelle auftauchte und finstere Drohungen gegen mich ausstiess. In jenem Moment wurde mir klar, dass George mir mehr Angst einflösste, als es der Vampir je vermocht hätte.
Der deckte mich sogar mit seinem Leib und fiel dann wie rasend über die angreifenden Männer her. George wurde sein erstes Opfer. Er verbiss sich in dessen Hals und liess ihn irgendwann wie eine leblose Marionette fallen. Die verzweifelten Attacken der anderen Dorfbewohner schlug er unbeeindruckt zurück, tötete zwei weitere und stellte schliesslich unter wütendem Knurren und mit gelb glühenden Augen dem flüchtenden Letzten hinterher.
Ich blieb zurück und starrte ohne ein Gefühl des Bedauerns auf Georges blassen, reglosen Körper. Sein Blick war voller Entsetzen gen Himmel gerichtet und ich fragte mich, ob das jene Gerechtigkeit war, von der der Alte immer gefaselt hatte. Ich fand es nur fair, dass dieser perverse Bastard auf solche Weise sein Ende finden musste.
Ich erinnerte mich nicht, wie lange ich dort stand und mir das Gesicht des Todes betrachtet hatte. Doch irgendwann kletterte ich neugierig die Treppe hinauf und fand das gesamte Dorf niedergemetzelt vor. Auch für die anderen Anwohner verspürte ich kein Mitleid. Nie hatte mir einer von ihnen Wärme gegeben oder Freundlichkeit gezeigt. Für sie war ich immer nur das lästige Hungermaul gewesen, das Balg, das nie etwas richtig machen konnte. Und niemanden hatte je gekümmert, welch übles Spiel George mit mir trieb. Es gab keinen Menschen, mit dem ich mich verbunden fühlte.
Mit Ausnahme jenes Mannes, der dort wie ein Racheengel inmitten eines Berges aus Leichen stand.
Er wandte sich zu mir um, unsere Blicke trafen einander und ich erkannte, dass die Raserei inzwischen von ihm abgefallen war. Er betrachtete mich eine ganze Weile, kam dann zu mir herüber und hockte sich vor mich hin.
„Hast du denn keine Angst?" fragte er und ich verneinte. Angst hatte ich tatsächlich nicht.
„Und du bist auch nicht zornig wegen dem, was hier geschehen ist?" Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich fühlte keine Reue.
„Na schön," erhob er sich wieder und streckte mir seine Hand entgegen. „Dann komm. Wir haben hier nichts mehr verloren."
Hoffnungsvolle Freude erfüllte mich, als mein stiller Wunsch Wirklichkeit wurde, und ich griff sehnsüchtig nach der angebotenen Hand, um mit dem Vampir fortzugehen.
Er nahm mich mit in das nahe Anwesen, das er, wie er erzählte, schon lange Zeit bewohnte. Dort lebten wir drei Jahre zusammen. Ich lernte viel von ihm, lebte bei Nacht und schlief des Tags an seiner Seite. Er ernährte mich und ich tat irgendwann das gleiche für ihn, liess ihn regelmässig von meinem Blut trinken.
Es war die wohl wunderbarste Zeit meines Lebens. Ich war frei und glücklich, er war immer für mich da und wurde nie ausfallend oder gar grausam. Selbst das tägliche Vampirritual versetzte mich eigentlich nur in Ekstase. Dabei merkte ich nicht einmal, wie ich unter der unzureichenden Ernährung ausmergelte.
Aber eines Tages ging er für eine Nacht lang fort und, als er wiederkehrte, berichtete er mir, der Krieg sei vorüber. Ich konnte mit dieser Information wenig anfangen, da ich mir nicht vorzustellen vermochte, was Frieden überhaupt bedeutete. Doch er begann mir von unglaublichen Dingen zu erzählen und Neugier erfasste mich. Dann schlug er vor, in eine der erwähnten Menschenstädte umzuziehen und ich hatte keine Einwände. Ich wollte nur dort sein, wo er war.
Kurz darauf zogen wir los, viele Tage lang, bis er schliesslich einen Ort ausfindig machte, der ihm recht schien. Ich war so überwältigt von dem Anblick der hohen Gebäude, die trotz der allgegenwärtigen Verwüstung noch majestätisch wirkten, und den vielen Menschen, die sich zum Wiederaufbau hier eingefunden hatten, dass ich nicht merkte, was mein Gefährte plante.
Er brachte mich vor ein freundlich erleuchtetes Gebäude und sagte mir, ich solle drinnen auf ihn warten. Dann wandte er sich ab und ging. Und kam nie wieder.
Er gab mir den Namen Yue, doch seinen erfuhr ich nie. Ich nannte ihn bis zum Schluss nur meinen Meister.

„Brother Gabriel?"
Ich schreckte aus meinen Erinnerungen und schaute verwirrt nach dem Sprecher. Ein junger Adept hatte den Kopf durch einen Spalt der Tür zu meinem Studierzimmer gestreckt und blickte mich aus fragenden Augen an.
„Was gibt es?" räusperte ich verlegen und versuchte geschäftig zu wirken, indem ich die verstreuten Unterlagen auf meinem Schreibtisch zusammenschob.
„Verzeihung," druckste der Neuling betreten herum, „ich habe geklopft, aber..."
„Schon gut, ich war in Gedanken," unterbrach ich knirschend sein Gestammel. „Also, was ist los?"
„Father Francesco möchte Sie sprechen."
Ich stöhnte innerlich auf und ahnte schon, um welches Thema es gehen würde. Dasselbe, das mir schon mehrfach lange Diskussionen mit Francesco eingebracht hatte. Verdammt!
„Ja, ist gut. Ich komme," gab ich dem Burschen zu verstehen und scheuchte ihn mit einer Handbewegung aus dem Raum.
Dann atmete ich erstmal tief durch.
So intensiv und genau hatte ich meine Vergangenheit lange nicht mehr vor Augen gehabt.
Vierzehn Jahre waren vergangen, seit mein Meister mich bei dem Waisenhaus zurückgelassen hatte, mit dem Versprechen wiederzukommen. Aber er kam nicht. Und ich hätte Lügen müssen, wollte ich behaupten, auch nur einen Tag nicht an ihn zu denken. Doch so stark wie eben war es schon lange nicht mehr gewesen.
Müde schloss ich die Lider, liess mich einen Moment lang in die wohltuende Schwärze fallen und, als ich sie wieder hob, fiel mein Blick, sehr zu meinem Missfallen, auf die losen Blätter, die den Schreibtisch bedeckten. Alles Dokumente, Berichte und Bilder möglicher Kandidaten. Angefangen bei aktuellen Vorfällen, über historische Abhandlungen bis hin zu uralten Legenden. Die Unterlagen stammten teils aus den Bibliotheken der Gilde und teils waren sie von meinen vielen Reisen mitgebracht.
Und ich hatte gerade erst das Gesuch eines neuen Auslandsaufenthaltes eingereicht. Was mir wohl auch den Besuch bei Father Francesco bescherte.
Ich widerstand dem Drang, die ganzen Papierberge einfach in den Müll zu werfen, und erhob mich seufzend aus meinem Stuhl. Der Father wartete. Und ich musste mich erneut rechtfertigen.
Vor vier Jahren hatte man mich in den Stand eines Klerikers erhoben und damit wurde ich schliesslich zu einem offiziellen Jäger der Kleriker-Gilde, welche global organisiert der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Vampire entgegen trat.
Nach dem Krieg waren die Blutsauger nicht wieder verschwunden. Sie blieben einfach, wandelten unter den Menschen und gingen ihren Gelüsten nach. Unruhe wuchs in der Bevölkerung heran und die neo-katholische Kirche, der auch mein Waisenhaus unterstand, begründete schliesslich die Kleriker-Gilde.
Glücklicherweise musste man zu keiner Religion konvertieren, um der Gilde beizutreten. Es gab zu wenig Freiwillige, so nahmen sie jeden, der in Frage kam. Und mein Vertrauen in Gott war nie stark genug gewesen. Ich empfand zwar tiefen Respekt vor den Menschen, die mich nach meinem Meister so fürsorglich aufgezogen hatten, und besass vielleicht sogar ein wenig Glauben, aber er reichte nicht für ein Bekenntnis aus.
Mein Insiderwissen ermöglichte mir einen schnellen Aufstieg in der Gilde. Ich setzte die Informationen, die mein Meister so vertrauensvoll mit mir geteilt hatte, ebenso vertrauensvoll zu meinem Nutzen ein. Bis ich es vor wenigen Jahren endlich schaffte, mir einen Rang unter den höchsten offiziellen Mitgliedern zu sichern.
Nun hatte ich mir die Ressourcen erarbeitet, nach denen ich so lange strebte. Archive, Forschungsreisen, Laufburschen. Wenn nur nicht die ewige Frage nach den Geldern bliebe. Und natürlich passte es den Herren im Vorstand nicht, dass ich einen Grossteil meiner Untersuchungen auf einen ganz bestimmten Fall spezialisierte.
Verflucht, warum wurde ich denn nur nicht fündig?
Völlig perplex hielt ich plötzlich mitten im Schritt inne und fand mich stirnrunzelnd vor Father Francescos metallbeschlagener Tür wieder.
War ich eben wirklich den Weg bis hierher gelaufen und hatte es nicht bemerkt? Was ging nur mit mir vor heute? Irgendwie war das nicht mein Tag. Und Kopfschmerzen hatte ich auch.
Ich atmete noch einmal tief durch, hob die Hand und klopfte sacht mit dem Knöchel gegen das dunkle Holz. Ein leises Hallen rollte durch die Gänge und von drinnen rief mich eine Stimme herein. So drückte ich die Klinke und schob die schwere Tür auf.
Der Raum dahinter war wie üblich von warmem Licht erhellt, vollgestopfte Bücherregale, Karten und einige wenige Gemälde verdeckten die Wände und in der Luft lag der süsse Duft von Pfeiffentabak. Bis auf den Geruch und die Grösse unterschied er sich kaum von meinem eigenen Studierzimmer.
Mir gegenüber sass Father Francesco hinter seinem ausladenden Schreibtisch und schrieb etwas auf ein Papier.
„Kommen Sie rein, Brother Gabriel," warf er einen kurzen Blick durch seine schmale Brille auf mich.
Ich folgte der Aufforderung, schloss die Tür und trat näher.
Father Francesco beendete schliesslich seine Arbeit, legte den Stift beiseite und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, wobei er erneut seine durchdringend scharfen Augen auf mich richtete.
Wie üblich versuchte ich ihm standzuhalten und hatte meine Mühen damit. Irgendwie besass dieser ältere Mann eine Ausstrahlung, die mich nach wie vor zu verunsichern vermochte. Ganz besonders, wenn mir eine Zurechtweisung bevorstand.
„Father Francesco," hob ich beschwichtigend an, „ich weiss, warum Sie mich zu sich gerufen haben."
„So?" machte der Ältere und ich kannte ihn inzwischen gut genug, um das kaum wahrnehmbare Lächeln auf seinen Lippen zu bemerken.
Ich sackte ein wenig in mich zusammen. Dem Kerl konnte man nichts vormachen. Und ich wusste auch zu gut, dass nur unser beider gegenseitige Sympathie mir meine Narrenfreiheit bei ihm erlaubte.
„Es geht um das Budget, richtig? Ich habe dieses Halbjahr bereits zu viel davon verbraucht und schon wieder eine neue Reise beantragt."
Francesco schwieg bedeutsam.
„Aber ich habe eine neue Spur gefunden," fuhr ich fort. „Und ich glaube, es könnte die richtige sein."
Das war eine glatte Lüge. Die Spur war uralt und ich erhoffte mir rein gar nichts davon. Aber was blieb mir schon übrig? Mehr hatte ich nicht. Alle Fährten im Sand verlaufen, alle Quellen versiegt. Ich wusste nicht mehr weiter und griff schon nach jedem Strohhalm, der sich mir bot.
Die schwarze Würdenrobe mit den dezenten Silberverzierungen raschelte leicht, als Francesco sich aus seinem Stuhl erhob und um den Schreibtisch herum trat.
„Das haben Sie schon sehr oft geglaubt, Brother Gabriel," gab er ruhig zu bedenken und fixierte mich mit seinen scharfen Augen. „So lange ich Sie nun schon kenne, verwenden Sie all Ihre Ressourcen und Zeit auf die Jagd nach einem, verzeihen Sie den Ausdruck, Phantom. Und ich habe Sie gewähren lassen, weil ich Sie und Ihre Arbeit sehr schätze."
Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein.
„Aber denken Sie nicht, es ist langsam genug?"
Ich wollte schon etwas einwenden, doch er gebot mir Schweigen.
„Wie lange ist es nun her, dass Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?" wollte er wissen.
„Vierzehn Jahre," antwortete ich leise.
„Vierzehn Jahre," nickte er bestätigend. „Und seit zehn Jahren beschreiten Sie den Weg eines Klerikers um ihn zu finden. Und was haben Sie gefunden?"
„Nichts," gestand ich zerknirscht.
„Haben Sie sich denn in all der Zeit nie gefragt, ob vielleicht nichts zu finden ist, weil es nichts zu finden gibt?"
Ich musste schwer schlucken und einen Moment um meine Beherrschung kämpfen.
Und wie ich mich das gefragt hatte, beinahe jeden Tag, den ich neue Unterlagen durchging oder Hinweise wälzte.
„Ich habe mir diese drei Jahre mit ihm aber nicht eingebildet," gab ich grimmig zurück.
Father Francesco schüttelte milde das von schwarzgrauen Stoppeln umkränzte Haupt.
„Das unterstelle ich doch auch gar nicht," beruhigte er mich.
Ganz im Gegensatz zu einigen Pfarrern, die mich im Kindesalter von meinem ‚Vampirkomplex' zu heilen versuchten.
„Aber ist Ihnen denn nie in den Sinn gekommen, dass er bereits tot sein könnte?"
Wieder fuhr ich bei seinen gezielten Worten leicht zusammen. Wie konnte es nur sein, dass der alte Mann einen immer mitten ins Herz traf?
Natürlich hatte ich auch diese Möglichkeit mehrfach überdacht. Aber...
„Nein. Er ist noch am Leben. Ich weiss es."
Francesco atmete einmal hörbar lange aus und schloss einen Moment die Augen. Dann trat er ganz an mich heran und legte die Hand auf meine Schulter.
„Ich weiss, wieviel Ihnen die Sache bedeutet, Gabriel," erklärte er in erstem Ton und zeigte mit der Weglassung meines Titels seine ehrliche Anteilnahme. „Und ich tue für Sie, was ich kann. Aber ich muss mich leider vor dem Vorstand verantworten und die sind nicht so geduldig. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen diesen Auslandsaufenhalt nicht genehmigen. Und dreissig Prozent Ihres Budgets werden ab sofort der Forschungsabteilung zugewiesen."
Mir verschlug es die Sprache und ich starrte den Father ungläubig an.
„Was...?"
„Es tut mir leid, Gabriel," bekräftigte er noch einmal. „So lautet der Beschluss des Vorstandes." Dann nahm er die Hand weg und wandte sich ab. Das Gespräch war beendet.

Als ich Father Francescos Arbeitszimmer hinter mir gelassen hatte und um die nächste Ecke gebogen war, blieb ich wieder stehen und hielt nur mühsam meinen Zorn unter Kontrolle.
Dabei hätte ich es wissen müssen!
Der Vorstand mäkelte schon seit Monaten über den Mangel an Resultaten meiner Forschung und drohte mir die Gelder zu kürzen. Nur ihre Neugier über ein mögliches Ergebnis und Father Francescos Fürsprache hatten mir eine Gnadenfrist nach der anderen gewährt.
Aber nun war das wohl vorbei.
Eigentlich hätte ich mich sogar erleichtert fühlen müssen. Die beschränkten finanziellen Mittel würden endlich diese längst zwanghafte Suche zügeln. Und irgendwo hatte Francesco mit seinen Worten auch Recht. Ich wusste nicht einmal, ob das Ziel meiner Besessenheit überhaupt noch existierte.
Doch, ich wusste es! Ich spürte es.
Nur warum war er dann nicht zu finden, verdammt?
Ich hatte ein paar wenige Anhaltspunkte, denen ich bereits seit Jahren folgte. Allerdings waren es auch nicht mehr als vage Ideen. Und alle Betreffenden schon tot, wenn man den Legenden glauben wollte. Es gab einfach nichts Handfestes. Keinen Daseinsbeweis.
Und ich fragte mich inzwischen immer öfter, warum ich ihn eigentlich suchte. Er hatte mich damals verlassen. Zwar in fürsorgliche Obhut gegeben, aber verlassen. Ganz offensichtlich wollte er mich gar nicht bei sich haben.
Also warum war ich dann derart der Obsession verfallen, ihn aufzuspüren?
Ich schloss einen Moment die Augen und rief die Erinnerung an ihn zurück. Dieses tiefschwarze Haar, das sich so weich anfühlte. Die dunklen Augen, die mich voll Zuneigung anblickten. Das Lächeln, das seine Lippen kräuselte, wenn ich mich ungeschickt anstellte. Die starken Hände, die mich vor Gefahren bewahrten, und die Arme, welche mich tröstend umfingen. Die Wärme, die seinem Leib innewohnte, wenn ich neben ihm schlief.
Und das Gefühl seiner Fänge, als sie in mein Fleisch tauchten, und die Erregung, die ich verspürte, während er mein Blut in sich aufnahm.
Ich erbebte unwillkürlich unter dem Gedanken und merkte erst dann, dass ich unbewusst die Hand gehoben und mit den Fingerspitzen jene Stelle am Hals berührt hatte, von der er so gern trank.
Ich stöhnte innerlich auf und schimpfte mich einen Idioten. Nein, ich hatte keinen Vampirkomplex! Ich war nur... wollte nur... Ja, was eigentlich?
Einen wütenden Aufschrei unterdrückend rammte ich in hilflosem Zorn die geschlossene Faust gegen die Wand in meinem Rücken und lehnte ohnmächtig den Kopf nach hinten.
Nein, ich konnte es nicht ruhen lassen. Ob mit Budget oder ohne. Ich musste meinen Meister wiederfinden.
Schliesslich stemmte ich mich ergeben von dem kühlen Gemäuer weg und wandte mich zurück um die Ecke, nur um im nächsten Augenblick schon mit einem in Hellgrau gewandeten Adepten zusammenzustossen, der plötzlich wie aus dem Nichts in mich hinein rannte.
Der Aufprall liess uns beide überrascht aufkeuchen und einen Schritt nach hinten taumeln, wobei dem Adepten einige der von ihm getragenen Akten aus dem Arm rutschten und zu Boden glitten.
Auf den zweiten Blick erkannte ich den jungen Burschen wieder, der mich vorhin zu Father Francesco gebeten hatte, und streckte rasch den Arm aus, um ihn an einem endgültigen Fall zu hindern.
„Entschuldigung. Ich hatte Sie nicht gesehen," nuschelte ich betreten, als er wieder sicher auf seinen Beinen stand, und er nickte mir dankbar zu.
„Machen Sie sich keine Vorwürfe, Brother," winkte er mindestens genauso verlegen ab. „Ich habe Sie auch nicht bemerkt."
Ein peinlicher Moment entstand und mir fiel zu unserer Rettung das Chaos am Boden wieder ein.
„Lassen Sie mich helfen," bot ich an, bückte mich nach den Unterlagen und erstarrte in der nächsten Sekunde wieder zu Eis.
Das Gesicht des Mannes, das da zuoberst auf einem Foto prangte, war erschütternd vertraut. Es war das gleiche Gesicht, das ich hin und wieder in alten Dokumenten zu finden glaubte. Nur war es dem Original, das ich seit meiner Kindheit in der Erinnerung trug, noch ähnlicher.
Mein Herz begann wieder zu schlagen und pochte mir mit einem Mal schmerzhaft in der Brust. Konnte es wirklich sein? Oder spielten mir meine überreizten Sinne wieder einen üblen Streich? Wenn das ein Scherz war, dann kein besonders guter.
„Brother?" drang die Stimme des Adepten endlich in mein Bewusstsein und ich musste alle Kraft aufbringen, meinen Blick von dem Foto zu lösen und ihn auf mein Gegenüber zu heften.
Der junge Bursche hatte einen fragenden Ausdruck auf dem Gesicht und schien überhaupt nicht zu begreifen, was er mir da möglicherweise gerade beschert hatte.
„Was sind das für Akten?" wollte ich mit mühsam beherrschter Stimme wissen.
Der Adept schaute leicht verdutzt zurück.
„Was?"
Meine Geduld fand ein Ende, ich war mit einem Satz an ihn heran, packte seinen Kragen und wedelte aufgebracht mit den Papieren vor seiner Nase herum.
„Was das für Unterlagen sind, Mann," herrschte ich ihn an und sah, wie der Neuling vor meinem Zorn zu zittern begann.
„Ich weiss nicht," stammelte er verzweifelt. „Ich soll sie zu Brother Paul bringen."
Ich verstand, liess den Burschen wieder los und trat einen Schritt zurück. Nachdenklich blickte ich erneut auf das Foto und runzelte die Stirn.
Brother Paul war für die Neuzugänge verantwortlich. Seine Aufgabe bestand darin, als Vampir verdächtige Personen zu überprüfen und im Falle einer Bestätigung ihr Verhalten zu erforschen und als gefährlich oder harmlos einzustufen.
Dann hatte man diesen Vampir also kürzlich erst entdeckt? Irrte ich mich vielleicht doch? Natürlich wusste ich, dass vierzehn Jahre Leben und Alltag in der Gesellschaft das Gedächtnis eines jungen Teenagers trüben konnten. Aber dieser Mann auf dem Foto kam der Erinnerung an meinen Meister näher als alle Darstellungen, die ich je versucht hatte, mit ihm in Verbindung zu bringen.
Entschlossen blickte ich zu dem Adepten, der sich inzwischen ein wenig gefangen hatte, auf.
„Ich leihe mir diese Akte zu Recherchezwecken aus. Sagen Sie Brother Paul, dass ich sie ihm später persönlich wiederbringen werde."
Der Bursche nickte hastig, sammelte rasch die restlichen Unterlagen vom Boden und machte, dass er fort kam.
Ich blickte ihm noch eine Weile nach, hielt meinen kostbaren Fund mit beiden Händen umklammert und zog mich schliesslich damit in meine Räumlichkeiten zurück.

Er nannte sich Rayn und man schätzte ihn optisch auf Anfang bis Mitte Dreissig. Ob er tatsächlich ein Vampir war, wurde noch nicht bestätigt. Es gab auch keine auffälligen Todesopfer in seiner Umgebung. Den Hinweis, der ihn schliesslich in unseren Akten landen liess, hatte er selbst gegeben.
Er arbeitete offen als käufliche Gesellschaft in einem Host-Club in Akahouga, Osaka. Die Rolle des Vampirs war seine Masche und anscheinend sehr erfolgreich, wenn ich mir den beigefügten Werbeflyer des Clubs so anschaute. Das Interieur war geschmackvoll klassisch gehalten, man servierte erlesene Getränke und ‚Vampir' Rayn lud, lässig auf einer ledernen Couch sitzend und in einen teuren Anzug gekleidet, zu einigen Stunden romantischer Entspannung ein.
Wenn dieser Kerl meinem Meister nicht so verflucht ähnlich sähe, hätte ich das Ganze für einen schlechten Witz gehalten. Ich wollte mir einfach nicht vorstellen, dass jener so zurückgezogen lebende Mann, den ich damals kannte, sich unter die Gesellschaft mischte und auch noch für Geld unschuldige Frauenherzen ausbeutete.
Ich musste dieser Sache nachgehen, ohne Frage. Musste herausfinden, ob da nur ein dummer Idiot das Gesicht meines Meisters kopierte oder ob ich mein Ziel endlich erreicht hatte.
Geschäftig kramte ich meinen Kalender aus einem Stapel Papiere, schlug ihn auf und checkte die kommenden Termine. Es war Mitte Mai und ich hatte Anfang nächster Woche die nun gestrichene Reise nach Italien geplant, daher standen bis Ende des Monats keine wichtigen Daten an. Mir blieb also genug Zeit und Osaka lag auch nur eine knappe Stunde mit dem Zug von Kyoto, wo ich seit meiner Berufung in die Kleriker-Gilde wohnte, entfernt.
So fällte ich, nicht ohne einen weiteren nachdenklichen Blick auf das Foto des Vampir-Hosts Rayn, meine Entscheidung und trug ab dem morgigen Tag meine Abwesenheit in den Kalender ein. Jetzt musste ich nur noch Father Francesco mein Verhalten erklären, aber ich war sicher, ihn schon irgendwie überzeugen zu können.
Vorsorglich machte ich noch eine Kopie von der Akte und verstaute sie an einem sicheren Platz in meinem Schreibtisch, bevor ich das Original zu Brother Paul bringen und vorher noch bei Francesco vorbeischauen wollte. Ein rascher Blick auf die Uhr zeigte mir auch, dass die Mensa bald schliessen würde, und ich sollte dringend noch etwas essen. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen.

So machte ich mich zuerst auf den Weg in die gemeinsame Speisehalle im anderen Flügel und überquerte dabei den grossen, von steinernen Mauern umsäumten Hof. Herannahende Dämmerung wurde bereits spürbar, die tief hängende Sonne warf rotgoldene Strahlen über die Zinnen und Vögel trällerten ihren Abendgesang von den Zweigen der gepflegten Bäume.
Die alte christliche Abtei war, wie die ganze Stadt Kyoto, durch ein Wunder von den schlimmsten Verheerungen des drei Jahrzehnte dauernden Dritten Weltkrieges verschont geblieben und galt somit als eine der ältesten in Japan, sogar der ganzen Welt. Ich wusste, andernorts sah es nicht so gut aus.
Das nahe Osaka zum Beispiel war beinahe vollkommen zerbombt worden und erst vor gut zwei Jahren hatten die auferstandenen Industriemächte begonnen, dort Geld in den Wiederaufbau zu investieren. Dieser Host-Club und das umgebende Vergnügungsviertel mussten also neu sein.
In Gedanken versunken betrat ich die grosse Mensahalle, holte mir an der Theke ein Curry und hockte mich damit an einen der vielen leeren Tische, wo ich erneut die Akte aufschlug und nochmals alle Einzelheiten studierte, während ich ohne viel Appetit den Reis hinunter schlang.
„... Gabriel..." vernahm ich nach etwa der halben Schale meinen Namen irgendwo in meinem Rücken und hielt verdutzt nach dem Sprecher Ausschau.
Die kleine Gruppe in helles Grau gekleideter Adepten ein paar Tische weiter war in der sonst beinahe leeren Halle schwer zu übersehen. In ihrer Mitte entdeckte ich Marcus Galerian, einen Adepten Dritten Ranges, der kurz vor seiner Klerikerprüfung stand und es sich aus einem mir unbekannten Grund zur Aufgabe gemacht hatte, meinen Alltag zu versalzen.
Ich wusste, dass ich mit meiner gewissen Sympathie für Vampire oftmals auf Unverständnis unter den Klerikern stiess. Die Meisten, die der Gilde beitraten, taten dies nicht aus Spass an der Freude, sondern weil sie einen persönlichen Groll auf die Blutsauger hegten. So wie vermutlich auch dieser Galerian. Allerdings kannte ich seine Geschichte nicht. Und warum er speziell mich so sehr aufs Korn nahm, vermochte ich auch nicht zu sagen.
Immerhin war ich nicht der Einzige, der an eine Koexistenz mit den Vampiren glaubte. Nicht nur die drei Jahre mit meinem Meister waren Beweis dafür, es gab auch genügend Beispiele, dass Menschen und Vampire friedlich miteinander lebten, sich manchmal sogar verliebten.
Galerian musste auch derjenige gewesen sein, der meinen Namen bewusst so laut ausgesprochen hatte, dass ich es nicht überhören konnte, denn die sechs Augenpaare aller Anwesenden waren nun ausnahmslos auf mich gerichtet.
Galerian sprach weiter und ich vernahm einige Wortfetzen wie ‚Vampir', ‚Jahre' und ‚Suche', was der kleinen Gruppe leises Gelächter entlockte.
Ich war längst gewohnt, dass lästernde Zungen ein gefundenes Fressen an meiner Besessenheit fanden, und an jedem anderen Tag hätte ich es nicht mal gehört. Aber heute nach diesem Gespräch mit Francesco und dem Fund jener Akte drehte es mir irgendwie den Magen um.
Ich löste meinen Blick von den Adepten und richtete ihn erneut auf den Hochglanzflyer des Nachtclubs ‚Crimson Moon'. Wenn es doch nur wahr wäre... Ich versank in den dunklen Augen dieses Vampir-Hosts namens Rayn und mit einem Mal begann mir das Herz heftig in der Brust zu schlagen.
Was, wenn es wirklich wahr war?
Ich hatte mich all die Jahre so an die Niederlagen gewöhnt, dass ich mir einen möglichen Erfolg gar nicht mehr vorzustellen wagte. Und dann auch noch so simpel. Einfach in die Hände gefallen. Zum Greifen nahe.
Ich ballte zur Beruhigung die Hände zu Fäusten, atmete einmal tief durch, schob dann die halbleere Schale beiseite, schlug die Akte zu und erhob mich, um die Mensa zu verlassen. Ich musste Vorbereitungen treffen. Ich wollte gleich morgen früh einen Zug nach Osaka nehmen. Wollte keine Zeit mehr verlieren.

Von der Mensa aus schlug ich gleich den Weg zu Father Francesco ein, um ihn von meinen Plänen zu unterrichten.
Als ich das zweite Mal an diesem Tage vor dessen schwerer Tür stand und sacht dagegen klopfte, vernahm ich von drinnen das Gemurmel zweier Stimmen. Doch Francesco bat mich sogleich herein und noch während ich das Zimmer betrat, sah ich jenen jungen Adepten, von dem ich die Akte hatte, an dem grossen Schreibtisch stehen und sich aufmerksam zu dem Father hinab beugen.
Unwillkürlich nahm ich das Dokument hinter den Rücken. Ich wollte nicht für noch mehr Gerüchte unter den Adepten sorgen.
Doch der Bursche schien nichts davon bemerkt zu haben, nickte nur bestätigend zu Francescos Instruktionen und huschte dann mit einem Stapel Papiere in der Hand aus dem Raum.
Im Vorbeigehen senkte er noch respektvoll den Kopf vor mir und mir tat auf einmal Leid, ihn vorhin so grob angepackt zu haben.
„Was führt Sie her, Brother Gabriel?" wollte Francesco wissen, nachdem der junge Kerl die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Der ist neu, oder?" ging ich nicht auf seine Frage ein und zeigte mit dem Daumen hinter mich.
Francesco nickte.
„Eric Leonardo, ein Adept ersten Ranges. Gerade zu uns gekommen und ein guter Schüler. Ich dachte, ich nehme ihn etwas unter meine Fittiche." Der Father liess ein vergnügtes Lächeln sehen. „Seit Sie in den Klerikerstand berufen wurden, vermisse ich eine vertrauenswürdige, helfende Hand."
Ich lächelte zurück.
„Dann hoffe ich, er wird Ihnen gute Dienste erweisen, Father."
Der Alte nickte wieder und atmete einmal durch.
„Also, wie kann ich Ihnen helfen?"
Ich suchte nach Worten und merkte dabei, dass ich die Akte nach wie vor hinter meinem Rücken verborgen hielt.
Eigentlich wollte ich Francesco gar nicht detailliert in die Gründe meines Osaka-Aufenthaltes einweihen. Ich wollte keine weitere Aufregung verursachen, solange ich nichts Genaues wusste. Ausserdem hätte er die Glaubwürdigkeit meiner Spur vermutlich sowieso in Frage gestellt.
„Da ich ja nun meine geplante Reise nächste Woche nicht antreten kann," begann ich, „habe ich beschlossen, stattdessen nach Osaka zu fahren und dort einem anderen Hinweis zu folgen."
Francesco warf mir einen milde strafenden Blick zu, nickte aber schliesslich ergeben und wollte sich schon wieder über ein Papier auf seinem Schreibtisch lehnen.
„Und ich werde morgen früh schon abreisen," fügte ich noch an und der Father hielt mitten in der Bewegung inne, sah zu mir auf und hob erstaunt die Brauen.
„Warum die Eile?" wollte er wissen.
Ich fühlte mich ein wenig durchschaut und fischte nach einer plausiblen Antwort.
„Nunja, ich werde die nächsten Tage nicht gebraucht und es bietet sich gerade an." Klang das zu oberflächlich?
Francesco fixierte mich weiterhin mit seinen forschenden Augen und ich ahnte, er konnte sich seinen Teil denken. Doch er sagte nichts weiter dazu und nickte erneut.
„Na schön, ich gebe Ihnen, so lange Ihre Reise gedauert hätte. Aber bitte tun Sie mir den Gefallen, Gabriel, und denken Sie über meine Worte vorhin nach. Ich möchte nicht sehen, wie Sie Ihr Leben an eine fixe Idee verschenken. Sie sind ein zu guter Mann und sollten sich mehr Freiheiten erlauben."
Betreten senkte ich den Kopf und wich seinem Blick aus. Ich wusste, er meinte es nur gut. Und irgendwo hatte er auch Recht. Dennoch konnte ich nicht aus meiner Haut.
„Ja, danke, Father," murmelte ich, wandte mich ab und ging.

Bevor ich in meine Räume zurückkehrte, brachte ich noch rasch Brother Paul die geliehene Akte wieder.
Der blickte mich ebenfalls aus fragenden Augen an, als ich ihm das Dokument aushändigte, doch ich ging nicht darauf ein. Auch seine Einladung zu einem Shougi-Spiel nächsten Abend schlug ich höflich, aber bestimmt aus.
In meinem Studierzimmer angekommen, begann ich schliesslich meine Sachen zu packen. Oben in die Tasche legte ich noch meine zwei favorisierten Klingenwaffen aus legiertem Silber und die beiden automatischen Pistolen.
Letztere konnten einen Vampir mit Standardpatronen zwar nicht töten, aber immerhin aufhalten. Und so sehr mich die angekündigte Kürzung meines Budgets auch ärgerte, wusste ich doch, dass die Gelder wenigstens gut genutzt wurden. Die Forschungsabteilung arbeitete gerade an der Entwicklung neuer Munition mit Silbernitratkern, der nach dem Aufschlag explodierte und die giftige Substanz direkt in die Venen seines Opfers transportierte. Ich durfte nicht ohne Stolz behaupten, dass die Idee zu diesen tödlichen Projektilen meiner eigenen Forschung entstammte.
Nachdem ich endlich alles fertig gepackt und vorbereitet hatte, ging ich noch meine abendliche Trainingsroutine durch und zog mich dann in meine Schlafkammer zurück, wo ich jedoch vor dem Einschlafen ein weiteres Mal durch die Kopie jener Akte blätterte, als müsse ich mich wieder und wieder vergewissern, dass das alles kein Traum war.

Am nächsten Morgen wurde ich unwillig von dem gellenden Piepsen meiner Uhr aus einem seltsamen Traum gerissen, dessen Bilder sich mir aber sofort mit dem Aufwachen entzogen. Zurück blieb nur ein befremdlicher Eindruck von Erregung.
Ärgerlich schob ich die Erinnerung beiseite und machte, dass ich auf die Füsse kam.
Schnell hatte ich mich im Bad erfrischt und schlichte Kleider übergeworfen, griff dann meine Tasche und machte mich auf den Weg in die Stadt.
Nach dem Krieg hatte man den Kyotoer Hauptbahnhof zum grössten Teil wieder aufgebaut, doch lagen bis heute noch einige Gebäude brach. Man brauchte sie auch nicht. Der Zugverkehr war nicht mehr so stark wie früher. Allerdings wimmelten nach wie vor hunderte Menschen durch die Hallen.
Ich bezahlte am Schalter das Ticket, das ich gestern Abend noch gebucht hatte, kaufte mir ein Frühstück für unterwegs und setzte mich dann in mein Abteil.
Keine zehn Minuten später ruckte der Wagen an und ich befand mich unausweichlich auf dem Weg nach Osaka.
Was mich dort erwartete, vermochte ich immer noch nicht zu sagen. Würde ich abermals enttäuscht abziehen müssen oder würde ich meinem Meister begegnen? Und wenn dem so war, wie würde er reagieren? Würde er mich fortjagen oder freundlich begrüssen? Wäre ich ihm willkommen oder nicht?
Und ich? Wie würde ich reagieren? Nach vierzehn Jahren ergebnisloser Suche? Ich hatte nicht schlecht Lust, ihm eine reinzuhauen. Besonders wenn er dort tatsächlich als Vampir getarnter Host fröhlich seinem Vergnügen nachging.
Die nicht mal einstündige Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern. Ich würgte irgendwann das unschuldige Sandwich hinunter und konnte mich nicht davon abhalten, jene Unterlagen nochmals durchzusehen. Die erhoffte Ablenkung verschaffte mir das allerdings nicht.
Um acht Uhr morgens fuhr endlich der Zug im Osaka Bahnhof ein und ich liess mich von einem Taxi zum Rotlichtbezirk Akahouga bringen, wo ich erstmal für die nächsten drei Tage einkaufte und dann gegenüber des ‚Crimson Moon' ein Hotelzimmer mietete.
Der Portier wollte mich erst mit meiner Bewaffnung nicht einlassen, doch als ich ihm das Klerikersymbol unter die Nase hielt, verstummte er sofort und händigte mir respektvoll den Schlüssel zu dem gewünschten Zimmer aus. Zufrieden zog ich mich in meinen Raum zurück und richtete mich dort rasch ein.
Ich plante, die kommenden ein, zwei Tage erstmal nur zu observieren. Das Verhalten der Angestellten und der Besucher und ob sich irgendein Hinweis auf die Identität des Vampir-Hosts Rayn ergab.
So schob ich mir einen Stuhl an das zur Strasse liegende Fenster und begann zu beobachten.
Die Fassade des Nachtclubs entsprach exakt der Abbildung auf dem Flyer. Eine schwarze Marmortreppe mit dunkelrotem Teppich führte wenige Stufen hinauf zu dem gläsernen Eingangsportal und darüber prangte, nun erloschen, in grossen purpurnen Lettern der Name ‚Crimson Moon'.
Sonst war bis auf einige vorbei eilende Passanten nichts weiter zu sehen. Das Etablissement schlief. So wie beinahe jeder hier in Akahouga.
Ab Mittag kam endlich Geschäftigkeit unten auf. Reinigungskräfte und Lieferanten trafen ein, doch die Leute, die die Waren in Empfang nahmen, waren nur einfache Bedienstete. Von den Hosts oder gar dem Management liess sich niemand blicken.
Dann wurde es eine Zeitlang ruhiger und erst am späten Nachmittag öffnete sich die Seitentür hin und wieder mal, wenn einer der Angestellten heraustrat, um etwas zu erledigen oder nur an der frischen Luft eine Zigarette zu rauchen. Vampir Rayn entdeckte ich jedoch nicht.
Mit der Dämmerung flammten endlich die grossen Leuchtbuchstaben über den Türen auf und der Club eröffnete seinen Betrieb. Es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Damen die Treppe hinaufstiegen und von freundlich lächelnden, jungen Männern empfangen wurden. Und die Besucherzahl war nicht gering.
Selbst unter dem Aspekt, dass heute Wochenende war, zählte ich über vierzig Frauen, die sich hier zu lauschiger Unterhaltung einfanden. Von hart arbeitenden Office Ladys bis hin zu reich begüterten Konzerntöchtern nutzte jede Gesellschaftsschicht die Angebote des Clubs, die sich die teuren Stunden käuflicher Romantik leisten konnte.
Dann und wann bemerkte ich im Laufe der Nacht einige der dort tätigen Hosts, wenn sie einen Gast verabschiedeten oder nur etwas frische Luft schnappten. Doch Vampir Rayn liess sich immer noch nicht blicken.
In den frühen Morgenstunden, als der Club seine Pforten schloss, ass ich einen schnellen Happen von den mitgebrachten Vorräten und legte mich dann selbst zur Ruhe. Ich wollte später wieder fit sein, das Etablissement nicht einen Moment länger als nötig aus den Augen lassen. Irgendwann musste sich der Star des hiesigen Nachtlebens doch mal zeigen.
Gegen Mittag weckte mich das schrille Piepsen meiner Uhr aus meinem Schlaf, ich erfrischte mich rasch im Bad und begab mich zuammen mit einem handlichen Frühstück zurück auf meinen Beobachtungsposten.
Der zweite Tag verlief nicht viel anders als der erste und langsam kehrte meine Unruhe wieder. Meine Geduld war am Ende und ich konnte mich nur schwerlich davon abhalten, mit Einbruch der Dämmerung einfach den Laden zu stürmen und selbst nachzusehen. Doch ich überzeugte mich davon, dass es klüger war, wenigstens noch eine weitere Nacht abzuwarten. Schon allein, weil morgen das Wochenende vorbei sein und damit vermutlich weniger Betrieb dort unten herrschen würde.
So blieb ich, betrachtete müde das Kommen und Gehen und bemerkte daher erst recht spät die deutlich auffällige Szene, die sich etwa eine Stunde nach Mitternacht vor dem Club ereignete.
Zwei der Hosts waren vor die Tür getreten. Ein jüngerer Bursche und ein anderer, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, da er mit dem Rücken zu mir stand. Und es brauchte einen Augenblick, bis ich endlich die tiefschwarzen Haare realisierte, die ihm bis auf die Schultern fielen.
Mein Herz pochte mit einem Mal wild in meiner Brust, ich lehnte mich angespannt aus dem geöffneten Fenster und achtete kaum noch darauf, ob der Vorhang mich verbarg. War das der Vampir-Host Rayn? Grösse, Kleider und Auftreten passten jedenfalls.
Er sagte etwas zu dem Jüngeren, was diesen erst zornig die Hände ballen und dann beschämt den Blick abwenden liess. Der schwarzhaarige Bursche machte eine lässige Geste, wand sich zur Seite und fischte eine Zigarette aus seiner Tasche, die er sogleich entzündete.
Auf die Entfernung konnte ich mir selbst bei seinem Profil noch nicht hundertprozentig sicher sein, doch meine Gewissheit wuchs weiter.
Dreh dich um! Ich muss dich sehen!
Er kehrte mir wieder den Rücken zu und stellte offenbar eine Frage an den Jüngeren. Der gab eine aufgebrachte Antwort und zitterte leicht dabei, woraufhin der Schwarzhaarige milde den Kopf schüttelte und einen nächsten Zug von seiner Zigarette nahm.
Dreh dich um!
Dann trat er an seinen jungen Kollegen heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach leise auf ihn ein.
Dreh dich um!
Schliesslich nickte der andere mühsam, der Schwarzhaarige klopfte ihm nochmal kameradschaftlich auf die Wange und schickte ihn mit einer knappen Kopfbewegung in den Club zurück. Er selbst blieb an Ort und Stelle stehen und rauchte allein seine Zigarette weiter.
Dreh dich um, verflucht!
Er drehte sich um, liess gleichgültig den Blick die Strasse hinab wandern, das gegenüberliegende Gebäude empor bis über mein geöffnetes Fenster, hinter dessen gebauschtem Vorhang ich wie gebannt stand. Er bemerkte mich anscheinend nicht, sondern trat einfach nur die Zigarette aus, wandte sich ab und kehrte durch die verdunkelten Glastüren in den Club zurück, während mir das Herz bis zum Hals schlug.
Einer Sache war ich mir nun zumindest sicher. Jener Mann war Vampir-Host Rayn gewesen. Er glich, mit Ausnahme eines dezenten Kinnbartes, den er sich aktuell offenbar stehen liess, zu hundert Prozent der Abbildung auf dem Werbeflyer. Und somit auch meinem Meister. Dennoch fiel es mir nach wie vor schwer zu glauben, jenen wirklich aufgespürt zu haben. Ich brauchte Beweise. Musste ihn treffen.
So blieb ich den Rest der Nacht am Fenster sitzen, hoffte, einen weiteren Blick auf Rayn zu erhaschen, und schmiedete nebenbei Pläne für den kommenden Tag.
Natürlich tauchte der Star-Host kein zweites Mal auf und nachdem die letzten Gäste gegangen waren, legte ich mich in mein Bett und schlief ordentlich aus.
Am nächsten Abend duschte ich ausgiebig, warf mich in Schale und versteckte die Waffen in dem eigens dafür gearbeiteten Jackett, bevor ich mich, nach einem letzten, zufriedenen Blick in den Spiegel, zum ‚Crimson Moon' auf machte.
Ich hatte auch während meiner Vorbereitungen den Club im Auge behalten und ganz nach meiner Vermutung war in einer Montagnacht hier deutlich weniger los.
Entschlossen verliess ich das Hotel, überquerte die Strasse und schritt die dunkelroten Treppen hinauf. Dem jungen Burschen, der mir die Tür öffnete, entglitten bei meinem Anblick die Gesichtszüge und er vergass in seiner Überraschung vollkommen, mich aufzuhalten oder überhaupt nach meinem Begehr zu fragen.
Ich schritt ohne ein Wort an ihm vorbei und sogleich auf den eleganten Empfang zu, wo der Concierge mir mit ähnlichem Erstaunen entgegen blickte, sich jedoch seiner Profession entsprechend schnell wieder fing.
„Sie wünschen?" fragte er distanziert.
„Ich möchte zu Rayn," erklärte ich und legte ihm meine Kreditkarte unter die Nase.
Der Concierge machte nun doch wieder einen verwirrten Eindruck, schaute einen Moment lang mit gerunzelter Stirn auf die Karte und dann auf mich.
„Sie..." hob er zögernd an, „wissen schon, dass dies hier ein Host-Cl..."
„Was denn, werden Männer hier etwa nicht bedient?" fiel ich ihm provokativ ins Wort und sah den Mann verlegen zusammenzucken.
„Nunja... also..." druckste er ausweichend herum, besann sich dann aber offenbar eines Besseren und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. „Wenn das Ihr Wunsch ist, werden wir Ihnen diesen gern erfüllen. Schliesslich ist der Kunde König."
Damit nahm er die Kreditkarte an sich, winkte einen seiner jungen Angestellten heran und führte uns an einen nahen, freien Tisch, wo er mir bedeutete, Platz zu nehmen.
„Bitte warten Sie hier. Rayn kümmert sich derzeit noch um einen anderen Gast, aber ich werde ihm Ihre Anwesenheit mitteilen. Serge hier," er deutete auf den Host, „wird Ihre Bestellung aufnehmen und steht auch sonst ganz zu Ihrer Verfügung, bis Rayn Zeit für Sie hat."
Ich nickte dankbar, liess ihn jedoch nicht aus den Augen, als er sich entfernte, während ich bei Serge beiläufig Kaffee und einen Irish Whiskey orderte. Der junge Bursche verschwand sogleich nach rechts Richtung Bar, derweil der Concierge seine Schritte linkerhand ein paar Stufen hinab in den eigentlichen Club lenkte. Zielstrebig hielt er auf eine in etwa der Mitte des Raumes gelegenen, dezent beleuchteten Sitzgruppe zu und tauchte schliesslich hinter einer hochgewachsenen Grünpflanze ab.
Ärgerlich reckte und bog ich mich, schaffte es aber nicht, einen Blick hinter das dichte Blattwerk zu erhaschen, und mir blieb nichts anderes, als ungeduldig abzuwarten. Einmal machte es kurz den Eindruck, als wolle der Concierge wieder auf den Gang hinaus treten, doch er kehrte zurück und es wurden offenbar weitere Worte gewechselt.
Gerade hatte Serge meine Getränke gebracht und sie vor mir auf dem Tisch abgestellt, da schien das Gespräch dort hinten beendet und der Concierge schritt wieder heran. Die Frage des jungen Hosts, ob ich sonst noch etwas benötigte, winkte ich herrisch ab und harrte gespannt auf Neuigkeiten.
Tatsächlich kam der Concierge auch direkt auf mich zu und hatte dabei eine nachdenkliche Miene aufgelegt.
„Rayn lädt Sie ein, sich bereits jetzt schon zu ihm zu gesellen, falls Ihnen das genehm ist. Seine Begleitung hat auch keine Einwände," erklärte er mir und schien diese Idee irgendwie nicht recht zu mögen.
Ich fragte mich ebenfallls, warum Rayn mir ein solches Angebot machte, aber es weckte meine Neugier und so nickte ich bestätigend.
Der Congierge akzeptierte diese Entscheidung und wandte sich an seinen Angestellten.
„Bring ihn zu Rayn," ordnete er kurz angebunden an, bevor er uns einfach den Rücken kehrte und ging.
Serge nahm meine Getränke wieder auf das Tablett und führte mich dann schweigend über den teuren, weichen Teppich an einigen lauschigen Nischen vorbei, in denen die hiesigen Hosts sich um jeweils ein bis mehrere weibliche Gäste kümmerten.
Ein paar verwunderte Augen blieben an mir haften und ich vernahm neugieriges Gemurmel durch den allgegenwärtig leise klingenden Jazz. Doch ich kümmerte mich nicht darum und richtete meine Aufmerksamkeit so konzentriert auf Serges Rücken, als könnte ich ihn mit meinen Blicken durchbohren.
Eine scheinbar halbe Ewigkeit später blieb der auch schliesslich vor der entsprechenden Sitzgruppe stehen, trat beiseite und gab mir damit endlich die unmittelbare Sicht auf Rayn frei.
Der lehnte lässig und eine edel gekleidete Frau im Arm in dem weichen Polster der dunkelbraunen Ledercouch und lächelte mir freundlich entgegen. Tiefschwarzes Haar umrahmte sein Gesicht, dunkle Augen fixierten mich und die Macht seiner Erscheinung raubte mir für eine Sekunde den Atem.
Er war es. Kein Zweifel. Ich hatte ihn gefunden. Meinen Meister.
Serge stellte meine Getränke zu dem Scotch und dem Champagner für die Lady auf den Tisch und Rayn machte eine einladende Geste.
„Bitte, setzen Sie sich doch...," Seine bedeutungsvolle Pause am Ende verlangte ganz offensichtlich nach einer Vorstellung meinerseits.
Ich tat ihm den Gefallen.
„Gabriel. Gabriel Lunaresca."
„Seien Sie uns willkommen, Gabriel Lunaresca," unterstrich Rayn seine Geste nochmals und ich forschte vergebens nach einem Anzeichen von Erkennen in seinen Zügen.
Doch da war nichts. Er hatte mich vollkommen vergessen.
Ich kämpfte grimmig die aufkommende Enttäuschung in mir nieder, folgte endlich seinem Angebot und hockte mich in das weiche Sofa ihm gegenüber.
Was hatte ich denn erwartet? Dass er mich trotz des falschen Namens und der vierzehn Jahre Erwachsenwerdens an der Nasenspitze erkannte und mir freudig um den Hals fiel? Denn selbst wenn er begriff, wer da gerade vor ihm sass, musste ich damit rechnen, dass er mich gar nicht sehen wollte. Er hatte damals sicher seine Gründe gehabt, warum er gegangen war.
Serge riss mich mit einer letzten höflichen Frage, ob ich noch etwas benötigte, wieder aus meinen Gedanken, doch Rayn schickte ihn mit einer knappen Handbewegung fort, während ich bemerkte, wie er mich weiterhin interessiert aus seinen dunklen Augen betrachtete.
„Wie Sie sicherlich wissen, bin ich Rayn," stellte er sich nun offiziell vor und deutete dann auf die Frau in seinem Arm. „Und diese reizvolle Lady hier ist Saori Sugata, Tochter von Sugata Enterprises."
Die junge Frau lachte vergnügt auf, so dass ihr helles, eng geschnittenes Kleid im schwachen Licht des in die Wand eingelassenen Wasserspiels glänzte, und versetzte Rayn einen spielerischen Klaps auf den Bauch.
„Du sollst doch damit nicht so rumprahlen," tadelte sie ihn scherzhaft, woraufhin er ihr ein entschuldigendes Lächeln zeigte.
„Verzeih, teuerste Saori, aber deine Reize sind doch sowieso für jeden ersichtlich."
Saori kicherte erneut, schüttelte ergeben den Kopf dazu und lehnte sich etwas vor, um nach ihrem Champagnerglas zu greifen.
Rayn nutzte die Gelegenheit, tat es ihr nach und nahm seinen Scotch auf Eis zur Hand.
Mein Blick folgte dabei aufmerksam seiner Bewegung und ich bemerkte die dezent langen, gut manikürten Nägel und den silbern funkelnden Schmuck an Mittelfinger und Handgelenk. Letzterer verschwand beinahe vollständig unter dem Aufschlag eines silberschwarz gestreiften Hemdes, welches aus dem Ärmel des schwarzen, matt schimmernden Jacketts hervor ragte. Der ganze Anzug schien massgeschneidert und sass vom Scheitel bis zur Sohle perfekt. So wie auch das nachtschattendunkle Haar und der feine Kinnbart.
Rayn führte das Glas zu den Lippen, trank einen Schluck und, als er es wieder absetzte, schenkte er mir ein Lächeln, das nur für mich allein bestimmt war.
Ich spürte Verlegenheit in mein Gesicht steigen, wurde mir bewusst, dass ich ihn gerade die ganze Zeit angestarrt hatte, und wandte den Kopf zur Seite.
„Also, Gabriel... Ich darf Sie doch Gabriel nennen?" hob Rayn schliesslich wieder an und stellte den Scotch zurück auf den Tisch. „Ich frage mich, was Sie überhaupt zu mir führt. Ich muss gestehen, ich bin überrascht. Männliche Kundschaft habe ich sonst nicht."
Seine direkte Frage verwirrte mich für einen Moment und ich versuchte, mir etwas Zeit zu verschaffen, indem ich nun selbst nach meinem Kaffee langte und ein paar Schlucke daraus trank.
„Vielleicht will er ja das Gleiche von dir, wie alle anderen auch," mutmasste Saori mit säuselnder Stimme und ich hatte mit einem Mal Mühe, die Tasse nicht fallenzulassen, als ich mitansehen musste, wie sie vor meinen Augen ihre Brüste an meines Meisters Seite schmiegte und ihm sacht die Hand unter dem Saum des lasziv geöffneten Hemdes auf die helle Brust legte.
Zu meinem bereits vorhandenen frostigen Gefühl der Enttäuschung mischte sich etwas Neues, heiss Brennendes.
„Ja, wer weiss?" wisperte Rayn zur Antwort in ihr edel frisiertes Haar und legte dabei den Arm um ihre Schultern. Sein durchdringender Blick allerdings blieb unverändert auf mir ruhen.
Saori aber regte sich wieder und schaute aus leise vorwurfsvollen Augen zu ihm auf.
„Dabei fällt mir ein," maunzte sie schmollend, „du hast mir heute noch gar nicht deine Gunst erwiesen."
„Ich weiss," wehrte er entschuldigend ab, richtete seine Aufmerksamkeit nun auf sie und legte ihr sacht die Finger unter das Kinn. „Verzeih mir, Verehrteste, ich wollte mir das bis zum Schluss aufheben. Aber nun haben wir einen Gast."
„Mir egal," beharrte sie mit kindlich charmantem Trotz.
„Dann macht es dir nichts aus, dabei beobachtet zu werden?"
„Nein," erklärte sie fest, lehnte dann mit geschlossenen Lidern einladend den Kopf zur Seite und bot ihm so die empfindliche Stelle ihres Halses.
Ich musste einmal schwer schlucken, als mir endlich klar wurde, was hier gerade im Begriff war zu geschehen.
„Na schön, Prinzessin," willigte Rayn sanft ein. „Dein Wunsch sei mir Befehl."
Damit legte er eine Hand auf ihre Hüfte, die andere in ihren Nacken und nahm ihren Kopf noch etwas weiter zurück, während er sich genüsslich langsam über sie beugte.
Für den Bruchteil eines Momentes glaubte ich seinen neugierigen Blick noch einmal zu mir herüber flackern zu fühlen und irgendwo tief in mir verknoteten sich meine Eingeweide zu einem schmerzhaften Klumpen.
Als seine Fänge in ihre zarte Haut drangen, krallte ich meine Finger unbewusst in die Polster des Sofas. Ich spürte, wie ich am ganzen Leib bebte, und ein bitteres Gefühl ergriff von mir Besitz. Dabei vermochte ich nicht einmal zu sagen, ob es der so offen zur Schau gestellte Akt des Blutsaugens oder die Tatsache, dass ich meinen Meister dabei beobachtete, war, was mich so sehr in Rage versetzte.
Beinahe vollkommene Reglosigkeit erfüllte für eine Weile die luxuriöse Nische, einzig unterbrochen von den aufsteigenden Sauerstoffperlen im Licht des Wasserspiels und der wandernden Bewegung von Rayns Adamsapfel, der unter dem Gewirr seines Haars hervorschimmerte, während er schluckte.
Gerade als ich dachte, ich könnte den Anblick keine Sekunde länger ertragen, liess er aber wieder von der Frau ab, küsste ihr noch umsichtig die letzten Tropfen vom Hals und setzte sich dann zufrieden zurück.
Saori holte einmal flatternd Atem, seufzte selig und räkelte sich schliesslich unter Rayns noch auf ihrer Hüfte ruhenden Hand.
„Wundervoll," hauchte sie und schaute verzückt zu ihm auf.
Mir stülpte sich dabei geradezu der Magen um, aber ich konnte es ihr nicht einmal verdenken. Zu gut erinnerte ich mich noch, wie aufregend sich ein Biss meines Meisters anfühlte.
„Es ist mir wie immer eine Ehre, Prinzessin," erklärte Rayn galant und fischte sich daraufhin eine Zigarette aus seinem Jackett, die er sogleich mit einem eleganten, silbernen Feuerzeug entflammte.
Ich erbebte ein weiteres Mal. Auch diese Geste war mir nicht fremd. Er rauchte immer nach dem Essen.
Saori rümpfte dazu leicht verächtlich die Nase, nahm ihre kleine Handtasche vom Sofa und richtete sich auf.
„Dass du trotz deines sprühenden Charmes solch schlechte Angewohnheiten haben musst," schalt sie kopfschüttelnd, was Rayn nur ein vergnügtes Lachen entlockte. „Ich gehe mir eben die Nase pudern."
Damit schob sie sich an ihm vorbei und, noch während sie die Sitzgruppe verliess, sah ich, wie sie einmal kurz schwankte. Der Blutverlust hatte sie wohl zusammen mit dem bereits konsumierten Alkohol etwas geschwächt, aber Sorgen um ihr Wohlergehen machte ich mir nicht. Ich wusste aus Erfahrung, dass er nicht genug getrunken hatte, um ihr Schaden zuzufügen. Vermutlich würde sie heute Nacht nur besonders gut schlafen. Und selbst die Wundmale an ihrem Hals würden in Kürze verheilt sein.
Rayn regte sich, aschte in die flache Kristallschale, die vor ihm auf dem Tisch stand, und lenkte so meine Aufmerksamkeit wieder zurück auf sich.
„Verzeihen Sie, Saori mag den Rauch nicht," entschuldigte er ihre Abwesenheit und mir wurde ein weiteres Mal schaudernd bewusst, dass er mich schon wieder die ganze Zeit aus seinen amüsiert funkelnden Augen betrachtete.
Ich nickte verlegen und nippte zum ersten Mal an meinem Whiskey in der Hoffnung, dass er mir endlich den schmerzhaften Knoten in meinem Magen löste.
->>
sorry folks, german readers only

so, hier ist es also...
das zweite kapitel von Crimson Rain

wieder mal zu lang für dA, also muss ich es notgedrungen in zwei teile splitten

viel spass :)

fortsetzung kapitel2: [link]

story & OCs © Me
chapter art © *HakkyouHime
original: [link]


kapitel1: [link]
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